Mario Tamponi Zurück
Auf Reisen Alles drin, nichts draußen Auf Erden zu Gast – so heißt es auch im Psalm 118: „Hospes ego sum in terra.“ Eben hier im Licht der Morgendämmerung geboren, lebe ich gerade so lange, um mir dessen bewusst zu werden... und in der Abenddämmerung beeile ich mich fortzugehen. So wie jeder anderer Reisegefährte, und ebenso wie die sich ablösenden Generationen ist alles im Fluss. Ich habe keine feste Bleibe, wo ich mir einbilden könnte, etwas zu besitzen, trotz des weichen Kokons, in den ich mich mit Beschützerinstinkt einzuwickeln versuche. Was meine Unterkunft mit Fenstern und Terrasse anbelangt, teile ich mit allen, Kunden und angeblichen Gastwirten, die Lage eines Nomaden. Kaum komme ich mit meinem 24- Stunden-Köfferchen an, packe ich eine Vielfalt an Dingen aus, blase sie aus voller Lunge auf und setze jedes davon an seinen Platz. Ich entfalte die Landschaft mit Obstbäumen, Schmetterlingen und Krokodilen, die Städte mit ihrer Hektik und dem Fortschritt, das glitzernde Meer, das von verborgenem Leben wimmelt, den Himmel mit seiner unbeständigen Leichtigkeit, die Eltern, die Freunde und die buntscheckigen Gemeinschaften von Gleichgesinnten, die Zuneigungen und die Pläne, das eigene Schicksal und das unergründbare der anderen. Und dann, im Moment des Weggangs, lasse ich die Luft raus, um alles wieder in meinem etwas abgenutzten Köfferchen zu verstauen: die Landschaft mit Obstbäumen, Schmetterlingen und Krokodilen, die Städte mit ihrer Hektik und dem Fortschritt, das glitzernde Meer, das von verborgenem Leben wimmelt, und den Himmel mit seiner unbeständigen Leichtigkeit, die Kinder und die Enkel, die Freunde und die buntscheckigen Gemeinschaften von Gleichgesinnten, die marmornen Gesichter der Verstorbenen, die Zuneigungen und die Pläne, das eigene und das kollektive, noch offene Schicksal; die ganze lebendiger und differenzierter gewordene Welt. Ich stecke die schwindelerregenden Abgründe der mich überwölbenden Galaxien hinein und die der mich erdrückenden Psyche, die Kaufverträge und die unvollendeten Tagebücher aus schwierigen Zeiten, die Konflikte der Geschichte mit ihren nicht gezogenen Lehren, die Trostgedichte, die vergilbten Aufnahmen aufgesuchter oder nur erträumter Orte, Dantes Komödie und Kafkas Schloss, Beethovens Eroica und Einsteins Formel, Leibniz’ Monaden und Kants Kritik, den Lobgesang des Heiligen von Assisi und die Quanten von Planck, die Bergpredigt und das Vaterunser. Ich stecke das Gute und das Böse hinein, das Getane und von anderen Erlittene, und es hält sich, wie ich hoffe, die Waage. Ohne Eitelkeit oder Rachegelüste, mit Bedauern, all dieser Wunder nicht würdig gewesen zu sein. Ich packe auch die Unterkunft dazu mitsamt der letzten Gäste und den angeblichen Verwaltern. Um fortzugehen. Ich frage mich nicht, wohin. Auch das Ziel ist schon drin, und das Köfferchen lässt sich bequem tragen und erleichtert mir so das Laufen. Ich eile zum Bahnhof, wo mich ein Zug mit dampfender Lokomotive erwartet. Und als der Bahnhofsvorsteher das Signal zur Abfahrt pfeift, packt sich alles dazu: der Bahnhofsvorsteher und seine Uniform, die Freunde, die mir weinend vom Bahnsteig aus zuwinken, und ihre Taschentücher, der anfahrende Zug. Sogar das zufriedene Lächeln, das mir entschlüpft, weil ich nichts vergessen habe; auch das wickelt sich auf wie die Winde des Gottes Äolus in ihren Schläuchen, die verschlossen Ruhe schenken. Eine Ruhe, die bleierne Müdigkeit nach ungeheurer Anstrengung ist. Es scheint, als verliere jedes Ding drinnen an Gewicht und Volumen. Auch ich gleite hinein ins watteweiche, zärtliche Dunkel. Es scheint klar, dass ich die äußerste Grenze jeglicher Fata Morgana, den Horizont der verschwimmenden Formen überschreiten werde. Das Köfferchen wird sich mikroskopisch klein zusammenziehen und sich dann aufs Neue ausdehnen; es wird sich wieder öffnen, und die ausgeschütteten Dinge werden sich von alleine, ohne den Beitrag meiner Lungen, wieder aufblasen, und sie werden natürlicher und schöner sein. Ein Schauer wird mir anzeigen, dass ich am Gut des Vaters angelegt habe, dem Vater des Lobgesangs und des Gebets. Die Natur ringsum hat klare Umrisse und satte Farben, Duft nach Rosmarin. Weit weg die Wettkämpfe, um zu siegen, und der hektische Wettlauf, weit weg die Politiker und die ausspähenden Staaten, die Anwälte und die Gerichte, die Moralisten und die Schmeichler, die Diskriminierungen und die plumpvertraulichen Beziehungen, weit weg der Albtraum von den Eicheln, die ich im Exil den Schweinen stehlen musste, um den Hunger zu stillen! Im Schatten der von Zikaden bevölkerten Pinien ist die Zeit kein Sklaventreiber mehr, der den rasenden Rhythmus der zu erledigenden Dinge diktiert; jetzt gibt es nur die Freude am Dasein und den Wunsch auszuruhen. Von diesem Köfferchen habe ich heute Nacht geträumt – mit allem drin, nichts draußen. Ein Traum, der im von Sinnes- und Verstandestäuschung beherrschten Wachzustand nicht weitergeht. Der Wachzustand wird mich weiterhin glauben machen, dass die andere Welt, die neue, nur surreal sei. Mario Tamponi