Mario Tamponi Zurück
Die Blonde mit dem Handy Romreise mit dem unsichtbaren Verlobten Die Blonde, neben die sich Giacomo setzt, ist atemberaubend. Nein, er hat sie sich nicht ausgesucht – es war der einzige freie Platz im Wartesaal am Flughafen von Berlin. Keiner der anderen hatte das gewagt, um nicht in den Verdacht der Belästigung zu geraten, zumal die junge Frau keinerlei Skrupel wegen ihrer tief ausgeschnittenen Bluse und dem knappen Minirock zu haben scheint, der ihre wie von Canova gemeißelten Beine und Knie umsäumt. Giacomos Vorstoß lässt sie unbeeindruckt, zu gefangen ist sie vom glühend am Ohr klebenden Handy und den ausladenden, untermalenden Gesten ihrer Arme und Hände, mit denen sie dem Gesagten und Gehörten Gestalt verleiht. Direkt neben ihr sitzend versteht Giacomo, dass sie mit ihrem Verlobten telefoniert. Er hört zu, erfährt Genaueres, merkt ihre Seufzer. Sie fliegt nach Rom wie Giacomo; der Verlobte dagegen bleibt in Berlin, um noch etwas zu erledigen. Der Name bleibt ihm verborgen, denn sie belegt ihn mit Kosenamen aus dem gesamten Tierreich, ohne jeden logischen Bezug zur Größe: Spätzchen, Schlänglein, Löwchen, Flöhchen, Eidechslein, Mückchen, Katerchen.... Um sich abzulenken, hatte Giacomo kurz vorher ein Kreuzworträtselheft gekauft, aber aus den Augenwinkeln heraus beobachtet er lieber die Blonde; die Anmut ihres Körpers verbindet sich mit einer sinnlichen, verführerischen Stimme, die nur er wahrnehmen und deuten kann. Er hat das Gefühl, in die intime Atmosphäre mit einbezogen zu sein. Und als die beiden Verlobten beginnen, übers Handy Zärtlichkeiten auszutauschen, streckt sie wie auf Ansage ihre freie Hand aus, um die naheliegende von Giacomo zu ergreifen, die – anfangs aus Verlegenheit und Zurückhaltung zu Eis erstarrt – nach und nach schmilzt wie weicher Wachs und Hormonstöße an Herz und Gehirn aussendet. Wie jemand, der ohne Vorankündigung oder ohne jedwede Kraftanstrengung oder Initiative dabei ist, den Schutzwall vor dem verbotenen Paradies zu überspringen. Nach der ersten Erkundung lässt sie seine Hand baumelnd fallen, aber nur, um sie gleich darauf im Einklang mit den Geboten aus dem Handy erneut zu ergreifen. Giacomo wirft seine Skrupel, als ungeschickter Casanova angesehen zu werden, über Bord. Wie sollten die Umstehenden im Übrigen auch, ohne das Gespräch zu hören, vermuten, er sei nicht der echte Verlobte! Im Einklang mit dem Crescendo des Telefonats geht sie vom Händedruck dazu über, seine Fingerbeeren mit kleinen wellenförmigen Vibrationen zu massieren, die er genießt wie Liebkosungen einer salzigen Meeresbrise nach durchwachter Nacht. Fakt ist, dass Giacomo sie anschließend neben sich im Flugzeug sitzend wiederfindet. Während des Flugs liest sie, wie unter Schock nach dem Abschalten des Handys, Fragmente eines Krimis, unterbrochen vom Schminken der Wangen und Nachziehen der Augenbrauen mit Hilfe eines perlmuttumrandeten Taschenspiegels, den sie wie ein Fernglas hin- und herschwenkt. Sie sieht Giacomo nicht an, streift ihn nicht einmal, auch wenn der vorhergehende Kontakt und die andauernde Nähe die Atmosphäre einer Paarbeziehung verlängern. Die Liebkosungen gehen unmittelbar nach der Landung weiter, als sie mit aktiviertem Handy das Gespräch mit dem Verlobten wieder aufnimmt. Und in zärtlichen Berührungen überträgt sie alles auf Giacomo, was sich die beiden Telefonierenden sagen, ins Gedächtnis rufen, herbeisehnen. Die Ferne des Verlobten scheint sie nicht zu schmerzen; das Pendant findet sie nebenan. So, als würden die Abwesenheit des einen und die Nähe des anderen sich vereinen, den Raum aufheben und so ermöglichen, dass das Leben ohne Unterbrechungen weiterläuft. Und so fällt, wieder ohne Vorankündigung, die zweite Barriere: der Kuss. Kurz davor hatte sie dick Lippenstift aufgetragen, weil ihr Verlobter dies gerne schmeckt. Giacomo muss das Rot jetzt ganz abschlecken, bis auf die darunterliegende, warme, samtige, fleischliche Haut. Lippen, die auch ohne Schminke purpurn wirken und die ihn, vom mandelförmigen Auslaufen abgesehen, an reife Kirschen erinnern, vom Baum gepflückt an einem Sonnentag im Frühsommer. Ab und zu unterbricht sie die Reihe von Küssen, um das Vergnügen dem Verlobten am anderen Ende der Leitung zu beschreiben. Giacomo spürt, dass der Verlobte diese Intimität voll und ganz, zärtlich und eifersüchtig als die seine auslebt. Und so kommt es, dass Giacomo sie, immer mit dem Handy am Ohr, in seinem Hotelzimmer wiederfindet; ein Einzelzimmer, das sie aber im Nu in ein Doppelzimmer verwandelt. Mit Giacomo hat sie kein Wort gewechselt, keine Andeutung eines Grußes, keine Freundlichkeit. Mit ihm kommuniziert sie nur über den Verlobten. Und darüber, was sich die beiden Verlobten sagen, erhält er die notwendigen Hinweise, um sich nicht wie ein Fisch auf dem Trockenen zu fühlen. Auch abends und nachts, wenn die Beziehung leidenschaftlich, am intimsten wird. Inspiriert vom leuchtenden Handy im Zentrum der Arena, zieht sich das Vorspiel nach einem bisweilen barocken Zeremoniell endlos hin. Ansonsten ist sie die wahre Regisseurin einer jeden Einzelheit und der Modalitäten des Beischlafs. Jede dem nicht entsprechende Initiative von Giacomo wäre ein Missklang – ein unreiner Akt, eine Entweihung des beseelten Eros, Verrat am zwar Abwesenden, in Wahrheit aber Anwesenden. Lang andauernd auch die Liebkosungen nach dem Orgasmus. So will es der Verlobte, damit sie sich nicht benutzt und weggeworfen fühlt, leicht Opfer eines epileptischen Anfalls. Also muss Giacomo ihre von Träumen und Liebestaumel erregte Nacktheit Stunden um Stunden wie Efeu umschlingen. Der Halbschlaf der beiden wird wiederholt vom feierlichen Liebes- und Treueschwur der zwei Verlobten per Handy mitten in der Nacht unterbrochen; immer unter Einbeziehung von Giacomo, der entsprechend auf ihre neuen, sich aus dem Gespräch mit dem anderen ergebenden Zärtlichkeiten reagiert. Von den Platanen der menschenleeren Allee her tönt der Gesang der Grillen. Aus den Gesprächen im Dunkeln erfährt er auch von ihrem psychopathisch-depressivem Zustand. Der Psychoanalytiker, der sie gerne behandeln würde, diagnostizierte den Beginn einer sadomasochistischen Schizophrenie mit erotisch-zerstörerischen Ausbrüchen. Der Verlobte ermahnt sie, die Tabletten und abendlichen Beruhigungsmittel mit den unaussprechlichen Namen der Psychiatrie einzunehmen, die Giacomo aus ihrer Handtasche holt und ihr mit einem Glas Wasser aus dem Hahn verabreicht. Halb im Schlaf spürt er, wie sich ihr Herzschlag über die noch steifen Brustwarzen mit seinem vermischt, zeitgleich mit dem Atmen der Sterne, die durch das weit geöffnete Fenster dringen. Er könnte sogar – ohne Angst, geopfert zu werden – in dieser Umarmung einschlafen. Das Herz ist nicht tatenlos, es ist ein Strahl positiver Energie; und wenn zwei Herzen sich einander nähern, formt ihre Harmonie die zerrissenen Enden einer jeden Beklemmung um und vermittelt die Gewissheit, dass das Leben in guten Händen ist. Dieses Atmen umschließt alles, hier gibt es keinen Raum für Depression und Tod. Sie stehen spät am Morgen auf, wechseln sich im Bad ab mit dem gegenseitigen Verständnis jahrelangen Zusammenlebens und frühstücken gemeinsam. Sie hängt wieder ununterbrochen am Handy, und Giacomo muss essen, was der Verlobte essen würde, ja, wahrscheinlich im selben Moment isst. Danach begleitet er die Blonde durch die Straßen Roms, die sie durchstreifen wie zwei Verliebte auf Hochzeitsreise, bei der sich die Gegenwart in die Zukunft verlängert, voller Luftschlösser und tröstender Illusionen. Bis der Verlobte überraschend verkündet, er sei bereits am Flughafen von Berlin und werde sie mit dem nächsten Flug erreichen. Ohne eine Miene zu verziehen, kehrt sie um in Richtung Hotel, begleitet von Giacomo, der immer noch zärtlich ihre Taille umfasst. Zurück im Zimmer lieben sie sich, so wie es zeitgleich das telefonische Drehbuch vorgibt, diesmal mit stark verkürztem Vorspiel, aber wieder mit einem Schwenk über alle Tier-Tierchen in Koseform, die sie dem Verlobten zuraunt, der erstaunlicherweise auch im Flugzeug – oder wie ein Vogel im Flug? – erreichbar ist. Giacomo versteht, dass es für sie nicht um einen Abschied von ihm geht, sondern um eine Begrüßung des womöglich schon in Fiumicino gelandeten Verlobten, den sie in Kürze treffen wird. Ohne zu duschen, streift sie sich den knappen Minirock und die tief ausgeschnittene Bluse über, sammelt die zerstreut herumliegenden Dinge ein und verstaut sie im Koffer. Und ohne ihm auch nur Ciao zu sagen, verlässt sie das Zimmer mit dem Handy am Ohr zu dem Hotel, in dem der Verlobte ein Doppelzimmer für beide gebucht hat. Alleine zurückgeblieben, streckt sich Giacomo aus, um ihren Duft auf Kissen und Betttuch des noch ungemachten Bettes einzuatmen. Fast identifiziert er sich mit seiner Rolle als Exdoppelgänger, als ihn ein Anruf des Verlobten erreicht. Giacomo gerät ins Stottern, aber sofort beruhigt ihn die Doppelstimme am anderen Ende der Leitung. Der Verlobte spricht mit ihm, dem Abwesenden, und gleichzeitig mit ihr, die jetzt in seiner Nähe ist und die er mit all den gewohnten Zärtlichkeiten bedenkt; und so kehrt Giacomo zurück in die vorher so brüsk unterbrochene Intimität. Der Verlobte dankt ihm für die mit soviel Sorgfalt übernommene Rolle und preist die selbstlose Großzügigkeit wie die Seele einer besseren Welt. Am Tag darauf stimmt Giacomo zu, ihn zu treffen. Aber als sie sich auf der Spanischen Treppe begegnen, kommt es ihm vor, als spreche er mit dem Bild, das er täglich beim Rasieren beobachtet: das eigene, dem Badezimmerspiegel entsprungene Bild, fleischgeworden in einem anderen. Schließlich verabschieden sie sich mit äußerster Herzlichkeit, aber ohne sich auch nur ihre Namen zu nennen oder eine Adresse auszutauschen. Als Giacomo weggeht, ist die Blonde, unbeweglich neben dem Verlobten, zu Tränen gerührt – aber lautlos, denn selbst die Stimme des Weinens will sie nicht an den Doppelgänger richten. Giacomo erwidert ihr dankbar mit einem Lächeln. Heute überziehen bizarre Wolken den klaren Himmel über den Kaiserruinen von Rom, begleitet von Vogelschwärmen in virtuosen Sturzflügen. Sie formieren sich, wie sie wollen, sie verbinden sich, mit wem sie wollen; keiner kann den Fluss stoppen. Sie haben eine starke Identität und eine ansteckende Faszination – ein Lebensrausch, bis sie, wenn sie wollen, in der Sonne verschwinden. Faser nach Faser, ohne eine Spur zu hinterlassen. Mario Tamponi